Reportagen aus Tschetschenien (4):
Kein Wasser, keine Medikamente

Moskau verwehrt ausländischen Helfern oft den Zugang in die Kaukasusrepublik

Von Florian Hassel (Itum-Kale)
Eine Reportage aus der Frankfurter Rundschau

Es war ein Tag im Juli, als russische Soldaten Malika Baijewa die Medikamente und Skalpelle wegnahmen. "Du heilst damit doch nur die Rebellen", erklärten die Soldaten der Stationsschwester des Krankenhauses Nr. 9 der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Monatelang hatte Baijewa, eine charismatische Mittvierzigerin mit schwarzen Haaren und braunen Augen, einen Sack mit Medikamenten, Messern und Verbänden in ihrer Wohnung vor den schlimmsten Kriegswirren versteckt und jeden Morgen nur das Notwendigste mit ins Krankenhaus genommen. Doch als die Soldaten in ihrem Stadtteil eine der häufigen "Säuberungen" durchführten, war alle Mühe vergebens.

Jetzt verwaltet Baijewa wieder den Mangel, wie die anderen Schwestern und Ärzte im Krankenhaus Nr. 9 von Grosny. "Wir haben kaum Antibiotika und Infusionen, keine Gipsbinden und Nadeln, und der einzige Sterilisationsschrank steht im OP." Das Krankenhaus ist die einzige halbwegs arbeitsfähige Klinik von Grosny. Das bedeutet, dass die Operationssäle als Einzige in der Ruinenlandschaft Grosny über Strom verfügen und Hunderte von Patienten in den Krankenzimmern und überfüllten Fluren liegen. "Davon abgesehen, ist ein Teil unseres Hauses von Bombentreffern schwer beschädigt, wir kennen Telefone nur noch aus Erzählungen, und wir können uns kein Benzin für den einzigen Krankenwagen leisten", sagt Chefchirurg Saipudi Mumajew. Dass die Patienten die Betten selbst mitbringen und die Verwandten für die Verpflegung sorgen müssen, gehört schon seit langem zum Normalbetrieb. Größere Probleme bereitet der Wassermangel.

Das Katastrophenhilfeministerium bringt täglich Wasser in Tankwagen, doch es ist zu wenig für die Bedürfnisse der Kranken. Der Korridor vorm Chefarztzimmer ist deshalb von Holzkisten versperrt. Maria Gozdecka, Koordinatorin einer polnischen Hilfsorganisation, hat gerade Einzelteile für den Bau einiger Zehn-Tonnen-Wassercontainer abgeladen, die in Krankenhäusern und Schulen Grosnys aufgestellt werden und Kinder und Kranke mit Wasser versorgen sollen. Im Krankenhaus Nr. 9 wollen die Polen außerdem Küche und Speisesaal reparieren. Doch die Hilfe der Polen ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Während Krankenhaus Nr. 9 wenigstens etwas Unterstützung bekommt, sind die Kliniken in schwerer zugänglichen Regionen Tschetscheniens auf sich selbst gestellt. "Wir arbeiten mit 24 medizinischen Einrichtungen in Tschetschenien. Viele von ihnen bekommen überhaupt keine Hilfe von Moskau", sagt Kenny Gluck von den Ärzten ohne Grenzen, die mit Geld von deutschen und holländischen Spendern den Medikamentenmangel lindern. Viele Organisationen, die ihre Aktionen auf die Betreuung der etwa 200 000 Flüchtlinge in der überlasteten Nachbarrepublik Inguschetien konzentrieren, würden auch innerhalb Tschetscheniens gern mehr helfen. "Wir sitzen in Nasran und Stawropol auf vollen Lagerhäusern mit Lebensmitteln, aber sind völlig blockiert", sagt Jonathan Littell von der französischen Hilfsorganisation Action contre la faim. "Seit vier Monaten streitet sich die tschetschenische Verwaltung mit den Militärs über die Kompetenzen. Die Militärs unterschreiben überhaupt keine oder nur begrenzte Passierscheine, was Hilfsaktionen im großen Stil unmöglich macht." Auch in Itum-Kale, Zentrum einer dünn besiedelten Bergregion an der Grenze zu Georgien, ist die von Moskau versprochene Hilfe bisher ausgeblieben. "Seit dem 1. März, als ich das Amt der Verwaltungschefs übernommen habe, gilt der Bezirk als befreit. Seitdem ist so gut wie nichts in Sachen Wiederaufbau passiert", sagt Edilbek Usujew, ein Hüne von Mann mit dichten buschigen Augenbrauen und glänzenden schwarzen Haaren. In einem halben Jahr hat Usujew gerade eine Hilfslieferung aus Kuwait in seinem von schroffen Bergspitzen und mittelalterlichen Wehrtürmen umgebenen Dorf verteilen können. Mitte September kam ein Hilfskonvoi der dänischen Flüchtlingshilfe und brachte im Auftrag der Europäischen Union Mehl und Zucker. Ansonsten sind die Menschen von Itum-Kale, wo kaum ein Haus von Bombentreffern verschont blieb, auf sich gestellt.

Das Haus des Verwaltungschefs, dessen neue Ziegelsteine in der Herbstsonne rot aufleuchten, ist bisher das einzige wiederaufgebaute. Nikolaj Koschman,der ehemalige russische Vize-Premier und Tschetschenien-Bevollmächtigte des Kreml, sei immerhin dreimal nach Itum-Kale gekommen und habe sich bemüht zu helfen, sagt Usujew. Achmed Kadyrow, von Präsident Wladimir Putin im Mai zum neuen Chef der Verwaltung Tschetscheniens ernannt, habe sich dagegen "noch nicht einmal bei uns blicken lassen". Auf dem windigen Platz neben dem Verwaltungsgebäude stehen zwanzig weiße Zelte, die Edilbek Usujew aus der eigenen Brieftasche bezahlt hat. Dort sind Flüchtlinge aus Dischnij Mochk untergebracht. Zwar ist das Nachbardorf nur drei Kilometer entfernt, doch dort sitzen die russischen Grenztruppen und sperren die vierzig Kilometer bis zur georgischen Grenze ab.

Seit einem halben Jahr wohnen elf Großfamilien aus Dischnij Mochk dicht gedrängt in den dünnwandigen Zelten, von denen nur wenige mit schiefen Holzöfen beheizt werden. Einige Großväter schlafen auf klapprigen Betten, alle anderen auf dem harten Bergboden. Gepur Idrissow, ein stolzer Alter mit kaukasischer Pelzmütze und blitzenden Silberzähnen, hat die Hoffnung verloren, dass Wladimir Putin seine Versprechen gegenüber den Tschetschenen hält. "Ich habe in Gudermes (dem Sitz der Verwaltung Tschetscheniens) zwei Bittschriften und Anträge auf die uns versprochene Kompensation eingereicht, doch nie eine Antwort bekommen", sagt der 76-Jährige. "Die russischen Soldaten lassen an den Kontrollpunkten nur Alte wie mich ungehindert durch. Ein junger Familienvater hat keine Chance, überhaupt bis nach Gudermes durchzukommen", sagt Idrissow. In ihrem eigenen Dorf fühlen sich die Bergbewohner wie Gefangene. "Es ist streng verboten, in den Wald zu gehen, um Holz zu holen", sagt der 44-jährige Sultan Murtasalijew, der wie fast alle Dorfbewohner vom Ertrag seiner Herde aus Schafen, Ziegen und Kühen lebt. "Entweder schießen die Russen auf dich, oder du trittst auf eine Mine."

Seit Kriegsbeginn haben russische Flugzeuge nicht nur Abertausende von handtellergroßen Tarnminen in den Bergen und Wäldern Tschetscheniens abgeworfen und systematisch Minenfelder um Städte und Dörfer gelegt, um die Bewegungsfreiheit der Rebellen einzuschränken. Die Rebellen ihrerseits verminten regelmäßig Treppenaufgänge, Häuser und Straßen. Dazu kommen hunderttausende Blindgänger. "In Kosovo, wo die Nato moderne Munition einsetzte, wurde bei Kriegsende geschätzt, dass fünf Prozent der Granaten und Raketen nicht explodiert seien", sagt Bo Bischof, ein im Auftrag der dänischen Regierung arbeitender Minenentschärfer. "In Tschetschenien schätzen wir den Anteil der Blindgänger wegen der oft alten, schlecht gewarteten russischen Munition auf bis zu zwanzig Prozent." Die Minenopfer liegen in allen Krankenhäusern: Jung und Alt trifft es bei der Ernte auf den Feldern, beim Altmetallsammeln in den Ruinen von Grosny oder beim Spielen im Hinterhof. Wiktor Leonow, ein 26 Jahre alter Russe mit schwarzem Schnurrbart und kräftiger Statur, hat vor einem Monat eine Aufräumfirma in Grosny eröffnet. Im Leninskij-Bezirk von Grosny ist er am 25. September bei Entrümpelungsarbeiten auf eine Mine getreten. Jetzt liegt er in Grosnys Krankenhaus Nr. 9 und "hofft, dass die Ärzte mein Bein in den nächsten Monaten zusammenflicken".

Vize-Bürgermeister Said-Ali Umalatow weiß, dass allein in Grosny täglich mehrere Menschen Arm oder Bein durch Minen verlieren. "Die Soldaten, die die Minen gelegt haben, sind weg, und die Einheiten des Innenministeriums müssen erst einmal wieder herausbekommen, wo die Minen sind." Doch das Militär hält selbst bekannte Lageorte geheim - vor allem aus Angst, die Angaben oder die Minen selbst könnten in die Hände der tschetschenischen Rebellen fallen. "Bevor irgendjemand ernsthaft mit dem Minenräumen beginnt, muss in Tschetschenien erst Frieden einziehen", sagt die Minenräumexpertin Karen McClore. Doch der ist nicht in Sicht.


Quellennachweis

http://www.fr-aktuell.de



 

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Stand: 01-03-01
Aktueller Bearbeiter: Mehmet Sanlier (1999/2001)
Datei: tschetc/reports/rep4.htm